Notwehrschranken bei Notwehr
Das Recht zur Notwehr wird – wie die übrigen Rechtfertigungsgründe – nicht schrankenlos gewährleistet. Es sind nur Verteidigungshandlungen zur rechtfertigen, die zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich und geboten sind.
Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung
3.1.1
Zwei Prinzipien liegen der Notwehr zugrunde. Das Schutzprinzip zum einen, welches dem Bedürfnis des Angegriffenen Rechnung trägt, seine Rechtsgüter zu schützen; das sog. Rechtsbewährungsprinzip zum anderen („Recht braucht Unrecht nicht zu weichen“). Die wesentlichsten Konsequenzen daraus sind:
- Grundsätzlich unterliegt die Notwehr keiner Güterabwägung zwischen dem Verteidigten und beeinträchtigtem Rechtsgut. Daher muss vor allem die Erforderlichkeit der Notwehr genau geprüft werden. Zum Schutz von Eigentum kann folglich auch die Verletzung und sogar Tötung des Angreifers erlaubt sein.
- Der Angreifer trägt das Folgenrisiko, d. h. es ist lediglich auf die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung abzustellen, nicht auf die unbeabsichtigten Verteidigungsfolgen.
3.1.2
Nicht jede Abwehrhandlung anlässlich einer objektiv bestehenden Notwehrlage ist deshalb auch erlaubt. Vielmehr ist die Verteidigungshandlung durch das Merkmal der Erforderlichkeit in tatsächlicher Hinsicht begrenzt. Zunächst muss die Verteidigungshandlung überhaupt geeignet sein, den Angriff sofort und nachhaltig abzuwehren. Das für den Verteidiger erreichbare gewählte Abwehrmittel, muss eine sofortige und endgültige Beseitigung des Angriffs erwarten lassen. Auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen ist er grundsätzlich nicht gehalten, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist.
3.1.3
Die Verteidigungshandlung muss auch notwendig sein. Stehen mehrere gleichermaßen geeignete Abwehrmittel zur Wahl, dann und grundsätzlich nur dann hat der Verteidiger das mildeste Mittel zu wählen, das aber aus einer Betrachtung der Kampflage im Voraus (sog. exante—Sicht) Erfolg verspricht. Ein Einsatz lebensgefährlicher Waffen zwingt zur Prüfung, ob eine vorherige Androhung oder ein weniger verletzungsintensiver Einsatz für die Abwehr ausgereicht hätte. Sozusagen das „relativ“ mildeste Mittel.
Aber: Der Angegriffene braucht sich nicht auf unsichere Abwehrhandlungen einzulassen. Die Notwehr kennt kein Gebot der Waffengleichheit oder der Konfliktvermeidung.
Recht braucht Unrecht nicht zu weichen!
3.2 Gebotenheit der Verteidigungshandlung
Nach hiesiger Meinung wird das Erfordernis der Gebotenheit aus dem Wortlaut des § 32 Abs. 1 StGB gefolgert und begrenzt die Verteidigungshandlung zusätzlich in normativer Hinsicht. Die Erforderlichkeit dient dazu, Fälle zu erfassen, in denen ein Gebrauchmachen von der umfassenden und schneidigen Notwehrbefugnis nach den Gesamtumständen unter Berücksichtigung auch der Notwehrzwecke und der Grundsätze des Rechtsmissbrauchs rechtsethisch nicht angebracht ist.
Zum einen kann je nach Fallgestaltung mangels Gebotenheit das Notwehrrecht gänzlich ausgeschlossen sein; es kann aber auch zum anderen lediglich verhältnismäßige (abgestufte) Notwehr geboten sein. Ausnahmsweise jedoch wird in letzterem Fall das sonst unbeschränkte Notwehrrecht auch durch Güterabwägung eingeschränkt.
Krasses Missverhältnis zwischen Erhaltungsgut und Eingriffsgut
Ein Beispiel hierfür ist der „Schulfall“: A ist aufgrund einer Erkrankung an den Rollstuhl gefesselt. Er sieht wie ein Nachbarsjunge in einen seiner Apfelbäume klettert, um einen Apfel zu stehlen. Um diesen Angriff auf sein Eigentum zu unterbinden, sieht A seine einzige Möglichkeit darin, den Jungen mit einem Gewehr aus dem Baum zu schießen. Aufgrund des hier vorliegenden krassen Missverhältnisses zwischen dem Eingriffsgut „Leben“ und dem Erhaltungsgut „Eigentum an Äpfeln im Wert von Centbeträgen“ ist hier eine Notwehr durch A überhaupt nicht geboten.
Absichtsprovokation
Nur um Notwehr üben zu können, provoziert der spätere Verteidiger die Attacke des Angreifers gezielt. Hier dient die Notwehr nur vordergründig der Verteidigung; in Wirklichkeit soll ein eigener Angriff durch den Deckmantel der Notwehr verschleiert werden. Hierin liegt ein Missbrauch des Notwehrrechts.
Sonstige vorwerfbare Provokation
Gegenteilig zur Absichtsprovokation muss es hier dem Verteidiger nicht darauf ankommen, eine Notwehrlage hervorzurufen; es genügt, wenn sein Vorhalten in sozialethisch oder in rechtswidriger Weise eine Notwehrlage hervorgerufen hat. Hier wird das Notwehrrecht nicht völlig ausgeschlossen. Es darf nur noch „abgestufte“ oder „verhältnismäßige“ Notwehr geübt werden. Stichwort: „Ausweichen“, Schutzwehr, Trutzwehr“, wobei sich die Höhe der Anforderungen an die Vermeidung gefährlicher Konstellationen an der Schwere der Vorwerfbarkeit der Provokation orientiert (sog. Drei-Stufen-Theorie).
Angriffe erkennbar schuldlos Handelnder
Sämtliche Arten der Schuldlosigkeit fallen hierunter, wie z. B. Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20 StGB), Entschuldigungsgründe (§§ 33, 35 StGB) etc. Die o. g. Abstufung der Notwehr gilt auch hier.
Keine staatliche Folter als Nothilfe
Von Literaten kontrovers diskutiert hat diese Fallgruppe erst anhand des jüngst entschiedenen „Falles Daschner“ Konturen erlangt. Hier ging es um die Frage, ob ein Polizeibeamter im Wege der Nothilfe einem Beschuldigten mit Folter drohen darf, um ihn zur Preisgabe des Verstecks eines in Lebensgefahr befindlichen Entführungsopfers zu bewegen. Mangels „Gebotenheit“ wird hier nach hiesiger Meinung ein Nothilferecht des Staates abgelehnt. Nur ein Verhalten, das im Einklang mit den Fundamentalprinzipien steht, könne die Rechtsordnung verteidigen. Nur insoweit sei Notwehr/Nothilfe „geboten“. Die Menschenwürde sei hier als gewichtigstes Fundamentalprinzip zu nennen, deren Unantastbarkeit durch Art. 79 Abs. 3 GG ewig gewährleistet werden soll. Ein folternder Staat behandele den Betroffenen nicht mehr als eine mit (Grund)-Rechten ausgestattete Person, sondern reduziere ihn auf eine Informationsquelle, mach ihn zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Der Polizist, der die Folter auch nur androhte, verletzt daher die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 104 Abs. 1 S. 2 GG) das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Menschenrechtskonvention (Art. 3 MRK).